Mittwoch, 11. November 2009

Tag der Unabhängigkeit

Heute, am 11. November, feierte Polen seinen Unabhängigkeitstag - vor genau 91 Jahren erlangte es, nach dem ersten Weltkrieg, seine Souveränität zurück. Somit ist es nicht nur ein Unabhängigkeitstag, sondern auch ein Tag der Freude und des Patriotismus: An jeder Häuserwand wehen Flaggen in Rot-Weiß, Kinder laufen mit Flaggen umher, mal so groß wie ihr Gesicht, mal so groß wie sie selber.

Ein Mittwoch des Ausnahmezustands! Alle Läden (so gut wie - in der Handvoll geöffneter Läden drängen sich die Leute, stehen Schlange bis hinauf auf die Straße. Um mir zwei Äpfel zu kaufen stand ich bestimmt zehn Minuten auf der Ogarna vor einem Laden) geschlossen, die geöffneten Cafés in der Innenstadt völlig überfüllt. Und die Menschenmengen, die unterwegs sind!

Wer hätte das etwa im August ahnen können, als sich Touristen über Touristen durch die Szeroka und die Dluga schoben: Nun, im November, sind die Danziger aus ihren Häusern gekommen und fordern die Innenstadt für sich! Eine Menschenmasse in Rot-Weiß.
Für die, die versehentlich noch keine Fahne, Flagge, Schal oder Jacke in jenen Farben heute trugen, stand eine Frau mit kleinem Wägelchen bereit, an der Kreuzung zwischen Tkacka und Dluga: Alles, was das Herz des Patrioten begehrte, lag dort und wartete auf Käufer.

Aber die meisten Passanten waren schon gut ausgerüstet. Eines aber gab es nirgendwo zu kaufen und war deshalb umso schöner anzusehen: Die Freude und die Ausgelassenheit der Menschen.
Und das Gefühl, dass sie sich nicht nur deshalb freuten, weil sie einen Tag frei bekamen, sondern: weil es etwas zu feiern gibt.

Montag, 9. November 2009

Erbe und Zitate

Auch wenn sich das (Strassen-)Bild einer Stadt im Laufe der Geschichte veraendert, bleibt vieles doch erkennbar, auch wenn es nicht detailgetreu wieder auf- oder umgebaut wurde. Auch innerhalb der Architektur wird zitiert, wird sich aus dem reichen Erbe der Stadtgeschichte und ihrer Bauweise bedient.

In der Gegend, in der ich wohne, musste bis auf die Kirchen am Anfang und Ende der Strasse, alles wieder aufgebaut werden. Man hat sich nicht an jedes Detail gehalten. Aber: Man hat sich an einen (ehemals) vorherrschenden Stil angepasst, beherzigte Giebel, schmale Fassaden. Laengst nicht so herausgeputzt wie auf der Dluga oder der Piwna, aber immerhin: formbewusst.

Architektonische Stile aendern sich, unterliegen einer staendigen Mutation (Resultate einer manchmal fragwuerdigen "Evolution" finden sich wohl an jedem Ort der Welt) - und doch, manchmal gelingt es, sich immer wieder auf sein aesthetisches Erbe zu besinnen und Entwicklung und Tradition in Einklang zu bringen.

Unter den gelungensten Vertretern der ganz neuen Architektur, die sich mit einem hanseatischen, Danziger Stil auseinandersetzt, befinden sich einige Wohnhaeuser zwischen der alten Vorstadt und der Niederstadt, auch die Planungen fuer einen Gebaeudekomplex neben dem Krantor verfolgen eine Mimikry-Technik: sich einfuegen, und, wenn moeglich, nicht auffallen. Man uebernimmt die Form, spielt mit Materialien: viel Fenster, Glas, Fragmentierung der Fassaden.

Danzig: Ein lebendiger, sich entwickelnder Ort. Es lohnt sich in die Gegenwart und die Zukunft zu schauen, nicht nur in die Vergangenheit!

Sonntag, 8. November 2009

Die Danziger Dimension

Beim abendlichen Bier in einer Kneipe am Ende der Szeroka (528 Meter von meiner Wohnung, 498 Meter von der Marienkirche und 30,5 Meter von der Mottlau entfernt, wenn man sucht) auf zwei junge, deutsche Touristen getroffen, ein Paerchen, das mich zoegernd angesprochen hat.
Noch nie waren sie in Polen gewesen, das erste Mal also: Der Schritt nach Osten, und dann gleich Danzig. Erzaehlten, wie lange sie abgewogen haben, wo sie den Urlaub verbringen wollten.

Eine Fahrt nach Danzig ist keine Bauchentscheidung, ist eine ganz bewusste Reise. Oft sind Familiengeschichten damit verbunden, und wenn nicht Erinnerungen an die Erzahlungen von den Grosseltern, so doch an den Geschichtsunterricht.

Jugendliche Touristen aus Deutschland sind denn auch viel seltener anzutreffen als solche der aelteren Generation. Das allerdings kann sich jederzeit aendern: Wenn sich erstmal jemand gegen Mallorca oder London entschieden hat, bekommt er in Danzig grosse Augen und rote Ohren. Das junge Paerchen war ganz begeistert von seinem Aufenthalt, sagten, sie wuerden nun ueberall von Danzig schwaermen. Wenn Danzig Kulturhauptstadt wird, was sehr zu wuenschen ist, werden hoffentlich noch mehr Leute den Weg hierher finden, auch ohne Familiengeschichte.

Donnerstag, 5. November 2009

Leege Tor




Immer wieder fasziniert mich das Leege Tor, seine alten, eisenbeschlagenen Holztüren und das Verkehrschaos, das sich in ihm entspinnt. Und auch: Seine Decke und die meterdicken Wände! Dadurch, dass so wenig Touristen herfinden, habe ich ein viel persönlicheres Verhältnis zu dem alten Stadttor aufgebaut als etwa zum Hohen oder zum Goldenen Tor. Stadttore sind für mich etwas besonderes. Sie sind der Schlüssel zu einer Stadt, Schutz und Aushängeschild zugleich.

Mittwoch, 4. November 2009

Wetter und Schreiben

Es ist schon so: Kälte, Regen, Schnee werfen den Menschen auf sich selbst zurück. Ich erinnere mich an ein Gespräch vor kurzem, welche Faktoren sich auf die Herausbildung von Kulturen (etwa der Mittelmeerraum im Vergleich zu nördlicheren Regionen) auswirken könnten, natürlich tauchte auch das Wetter auf, mit all seinen Konsequenzen auf Möglichkeiten der Landbestellung und der menschlichen Betätigung.

Natürlich bleibt vieles davon Spekulation. Mitteleuropa etwa liegt ungefähr in einer ähnlichen Wetterzone - und hat dennoch so unterschiedliche Kulturen hervorgebracht. Oder andersherum: Sind sie denn wirklich so unterschiedlich?
Aber ich habe mich verrannt und wollte über etwas ganz anderes schreiben (Auch wenn ich mich, ich muss es zugeben, häufiger mit solchen Gedanken beschäftige - und niemals über die Erkenntnis hinweg komme, eine Chimäre zu sein, als Halb-Deutsche, Halb-Polin).

Vielmehr ist es so: Kälte, Regen, Schnee werfen den Schriftsteller auf sich selbst zurück. In Danzig mag es nun endlich und unabänderlich ungemütlich werden. Der Wind peitscht die letzten Blätter von den Bäumen, im kleinen Park vor meinem Fenster liegt alles darnieder, sogar am Ahorn, der genau vor der Marienkirche zu stehen scheint, lichten sich die Reihen.
Regen, Schneeregen bringen auch den leidenschaftlichsten Spaziergänger zurück an den Schreibtisch, führen seine Finger zum Bleistift und lenken ihn über die Papierbahnen, die an der Wand hängen.

All die Substanz, die aufgesogen wurde, will sich nun in Fiktion verwandeln, in etwas Eigenes. Die alte Vorstadt und die Niederstadt, die Fortifikationen. Sie werden auferstehen auf dem Papier, bald schon, während draussen der Regen gegen die Scheiben drückt.

Montag, 2. November 2009

Jaskowa Dolina

Ausflug mit Adrzej in den Jäschkentaler Wald. Erst ein ausgiebiger Spaziergang durch Wrzeszcz, vorbei an seinem Geburtshaus, schon in unmittelbarer Nähe des Waldes, und dann, endlich: hinein in den Wald. Wunderbar hügelig ist es hier, sanft wellt sich der Waldboden den Füßen der Wanderer entgegen, und hoch über den Köpfen rauschen die Buchen mit den ihnen noch gebliebenen Blättern. Ihre schlanken Stämme stehen weit entfernt voneinander, hell ist es und licht.

Andrzej erzählt von endlosen Rodelfahrten durch den Wald, als er noch ein Kind war - und, dass viele Rodelstrecken nun schon längst in Vergessenheit geraten wären. Was muss es für eine Freude gewesen sein, sich in den Elementen zu suhlen, im Schnee, im Waldboden, umgeben von kristallklarer Luft...

Dieser Ausflug - wir rundeten ihn ab, indem wir an den ausladenden Villen vorbei spazierten und lange Hälse machten, uns vorstellten, wie es wäre, dort drinnen zu wohnen - kam ganz passend.
Als wir nämlich vor dem Gutenberg-Denkmal standen, fiel mir ein, dass ich erst Tage zuvor, in "Hundejahre", von jener Stelle im Wald gelesen hatte. Furchtbar mutete da jener Gutenberg auf seinem Podest den Kindern an: Tulla machte Jenny zum Schneemann, und Matern machte unweit, im Steffensweg, Eddi Amsel ebenfalls zum Schneemann und zum Goldmäulchen.

Ich beglückwünschte Andrzej zu seinen besser gearteten Kindheitserlebnissen. Aber auch wir gruselten uns ein wenig, als wir an Gutenberg vorbei kamen: Ein paar zwielichtige Gestalten, die eng um ihn herum standen und eine Wodkaflasche kreisen ließen, ließen uns schneller gehen. Man weiß ja nie.

Samstag, 31. Oktober 2009

Die Marienkirche und Ich

Schriftsteller haben die Angewohnheit, zu starren. Stundenlang, gegen die Wand, in eine Kaffeetasse, auf den Laptop, vorzugsweise aber aus dem Fenster. Ich würde behaupten, dass ein Schriftsteller mehr aus dem Fenster starrt, als dass er schreibt, behauptet also jemand, fünf Stunden lang geschrieben zu haben (was ohnehin unmöglich ist, am Stück), sage ich: Ja, aber davon hast du drei Stunden aus dem Fenster gestarrt!

Auf dem Blog habe ich nun schon zahlreiche Fotos der Aussicht aus meinem Fenster veröffentlicht, Fotos von dem kleinen Park und der Marienkirche, die sich hinter ihm auftürmt. Jeden Tag guckt mir ihr ummantelter Turm - der Turm wird gerade restauriert und ist deshalb eingepackt in Stoffplanen, die im vergangenen Sturm trotzdem die herunterfliegenden Backsteine nicht abhalten konnten - über die Schulter, guckt mir beim Schreiben zu.

Ohne pathetisch werden zu wollen, ist sie mir tatsächlich so vertraut geworden, und nicht nur dass: Fast schon ein notwendiges Schreibutensil ist sie geworden, etwas, mit dem ich mir einbilde, mich besser konzentrieren zu können, länger am Schreibtisch verharren zu können, wacht die Kirche doch über mir und kontrolliert eifersüchtig meine Arbeitszeit.

Die Marienkirche. Mittlerweile kenne ich sie genau, kenne ihre Ein- und Ausgänge, ihre Portale, die abgewetzten Steinplatten, die Kapellen, die Uhren, die Holzskulpturen, den Altar. Ich fühle mich in ihr zu Hause. Wenn ich meines Schreibtisches überdrüssig werde, meine, nicht genug Zeit zu haben für einen Spaziergang oder eine Stadtflucht, gehe ich hinüber und drehe einige Runden in der Kirche, jedes Mal ein neues Detail entdeckend.

Was werde ich bald schon ohne sie tun? Ich denke über eine Fototapete nach. Irgendwie muss dieses Problem doch zu lösen sein.